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Weniger KESB-Massnahmen durch Stärkung des einvernehmlichen Handelns

  • jacquelinesidler
  • 21. Sept. 2022
  • 4 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 22. Sept. 2022

Im Kanton Bern werden viel häufiger Kindesschutzmassnahmen behördlich verfügt als in anderen Kantonen. Dies ergibt sich aus den jährlichen Massnahmenstatistiken der Konferenz für Kindes- und Erwachsenenschutz (KOKES). Ursache hierfür könnten finanzielle Fehlanreize sein, welche die einvernehmliche Fallarbeit der Sozialdienste gegenüber dem behördlich angeordneten Handeln benachteiligen. Eine bessere Abgeltung der Sozialdienste würde den einvernehmlichen Kindesschutz stärken und namentlich den Einbezug der Eltern und die Akzeptanz gegenüber der Schutz- und Förderleistung verbessern.

Jeden Herbst veröffentlicht die Konferenz für Kindes- und Erwachsenenschutz (KOKES) eine Statistik mit der Zahl der per 31. Dezember bestehenden Kindesschutzmassnahmen (Kokes :: Aktuelles Jahr). Die KOKES-Statistik erlaubt Vergleiche und wirft regelmässig die Frage auf, weshalb in einzelnen Kantonen deutlich mehr Schutzmassnahmen als in anderen behördlich angeordnet werden.


Ein Blick auf das Zahlenwerk zeigt, dass u.a. im Kanton Bern überdurchschnittlich viele Kindesschutzmassnahmen durch die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (KESB) verfügt sind. Die Zahl der von den KESB-Massnahmen (pro 1000 Minderjährigen) liegt ca. 26 Prozent über dem gesamtschweizerischen Durchschnitt (KOKES, 2021). Verglichen mit dem benachbarten – von der Bevölkerungsstruktur ähnlichen – Kanton Waadt bestehen im Kanton Bern sogar doppelt so viele Kindesschutzmassnahmen (Abbildung 1).


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Abbildung 1 – Kindesschutzmassnahmen pro 1000 Minderjährigen nach Kantonen (Daten gem. KOKES, 2021)


Wirft man einen Blick auf die Zahl der Beistandschaften für Minderjährige, gehört der Kanton Bern schweizweit ebenfalls zur Spitzengruppe (Abbildung 2). Im Kanton Bern werden bestehen 40% mehr Beistandschaften als im schweizerischen Durchschnitt. Vergleicht man wiederum mit dem Kanton Waadt sind es mehr als fünf Mal so viele Beistandschaften die pro 1000 Minderjährige errichtet wurden.


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Abbildung 2 – Beistandschaften pro 1000 Minderjährigen nach Kantonen (Daten gem. KOKES, 2021)


Die überdurchschnittlich vielen Kindesschutzmassnahmen im Kanton Bern werfen die Frage auf, ob in gewissen Fällen das Kindeswohl nicht auch mit einvernehmlich vermittelten Leistungen hätte geschützt werden könnte. – Die vom Bundesgesetzgeber in Art. 307 Abs. 1 ZGB festgelegte Subsidiarität der behördlichen Massnahmen gegenüber dem einvernehmlichen Kindesschutz scheint im Kanton Bern weniger gut als in anderen Kantonen beachtet zu werden. Ziel der Behörden (im Kanton Bern Sozialdienste und KESB) sollte es eigentlich sein, einer Gefährdung des Kindeswohls – wenn immer möglich – mit einvernehmlich vermittelten Leistungen zu entgegnen, denn:

  • Wenn die Betroffenen mitbestimmen können, welche Förder- und Schutzleistungen sie als sinnvoll erachten, ist ihre Bereitschaft grösser, bei deren Umsetzung mitzuwirken. Das wiederum erhöht die Wirksamkeit der zum Schutz des Kindeswohls vereinbarten Hilfen.

  • Einvernehmlich vereinbarte Hilfeleistungen verhindern teils schwerwiegende behördliche Eingriffe in die Freiheitsrechte der betroffenen Familien.

  • Die frühzeitige Vermittlung einvernehmlicher Leistungen unterstützt hilfesuchende Familien auf einfache Art und Weise. Aufwendige KESB-Verfahren und teure Zwangsmassnahmen erübrigen sich.


Geringe Entschädigungen im einvernehmlichen Kindesschutz

Eine mögliche Erklärung für die überdurchschnittlich vielen behördlichen Massnahmen bietet die geringe Abgeltung der Sozialdienste für ihre Leistungen im einvernehmlichen Kindesschutzes. Die Unterschiede zum behördlichen Kindesschutz sind augenfällig:

  • Vermittelt ein Sozialdienst im Kanton Bern einem schutzbedürftigen Kind eine ambulante oder stationäre Leistung, wird er für seine Aufwendungen (Abklärung Kindeswohlgefährdung und Fallführung) mit 2358 Franken entschädigt (Art. 34d SHV). Besteht für die Familie des betroffenen Kindes aber bereits ein Sozialhilfedossier und wird keine stationäre Leistung vermittelt, beträgt die Entschädigung bestenfalls 1179 Franken (Art. 34e SHV i.V.m. Art. 34d Abs. 5 SHV).

  • Wird der Sozialdienst dagegen im Auftrag der KESB tätig, so erhält er für die Abklärung der Kindeswohlgefährdung und des notwendigen Förder- und Schutzbedarfs eine Abgeltung von 3041 Franken (Art. 7 Abs. 1 Bst. a i.V.m. Art. 7 Abs. 5 ZAV). Eine anschliessende Fallführung im Rahmen einer Beistandschaft wird mit zusätzlichen 3569 Franken entschädigt.

Aufgrund der unterschiedlichen Entschädigungen ist anzunehmen, dass es Sozialdienste grundsätzlich bevorzugen, im Auftrag der KESB, statt einvernehmlich tätig zu werden. Entsprechend wird die Frage, ob eine behördlich angeordnete Abklärung oder eine KESB-Massnahme tatsächlich nötig sind, möglicherweise nicht mehr bloss von der Kooperationsfähigkeit und -bereitschaft der hilfsbedürftigen Kinder und ihren Familien abhängig gemacht. Das Handeln der Sozialdienste wird vielmehr auch von Ressourcenüberlegungen beeinflusst. – Die bessere Entschädigung durch die KESB erlaubt den Sozialdiensten mehr Zeit für die Fallarbeit aufzuwenden, was letztlich vorab den betroffenen Kindern und ihren Familien zugutekommt.


Gerade bei nicht eindeutigen Fallkonstellationen entsteht durch das geltende Entschädigungssystem ein finanzieller Fehlanreiz. Erweist sich ein einvernehmliches Vorgehen als anspruchsvoll und ist dieses für den Sozialdienst mit hohem Zeitaufwand verbunden, wird bei der KESB möglicherweise vorschnell eine behördliche Massnahme beantragt. Da die KESB bei ihrer Entscheidfindung massgebend auf die Einschätzungen des Sozialdienstes angewiesen sind, werden dadurch mehr Massnahmen angeordnet als eigentlich erforderlich sind. Bei bestehenden Beistandschaften fehlt der finanzielle Anreiz, bei der KESB eine Aufhebung der Massnahme zu beantragen. In der Folge werden Massnahmen (vor allem Beistandschaften) weitergeführt, obwohl das betroffene Kind und seine Familie künftig auch auf einvernehmlicher Basis begleitet werden könnten.


Stärkung des einvernehmlichen Kindesschutzes

Die deutlich geringere Entschädigung im Bereich des einvernehmlichen Kindesschutzes führt nicht nur in Einzelfällen zu nicht notwendigen behördlichen Schutzmassnahmen. Die bestehenden Entschädigungsregelungen können von den Sozialdiensten auch als «politisches Signal» des Kantons verstanden werden: Einvernehmlich Kindesschutz ist weniger wert als das Handeln im Auftrag der KESB. Entsprechend investieren die Dienste weniger in den einvernehmlichen Kindesschutz und sehen sich vorab als vor- und nachgelagerte Dienstleistungszentren der KESB.


Ein solches Signal darf und will der Kanton Bern nicht aussenden. Einerseits hat er mit dem Erlass des Gesetzes über die Leistungen für Kinder mit besonderem Förder- und Schutzbedarf (KFSG) erst gerade diverse Ungleichheiten zwischen behördlichem und einvernehmlichen Kindesschutz beseitigt. Andererseits trägt er im Bereich des behördlichen Kindesschutzes sämtliche Kosten, während die Aufwendungen im einvernehmlichen Bereich hälftig zwischen Kanton und Gemeinden geteilt werden.


Nachdem mit dem KFSG die Basis für eine zeitgemässe einvernehmliche Unterstützung förder- und schutzbedürftiger Kinder geschaffen wurde, wäre es schade, wenn der Kanton Bern auf halben Weg stehen bliebe. Mit einer besseren Entschädigung der einvernehmlichen Arbeit der Sozialdienste könnte der Kindesschutz massgeblich gestärkt werden.


 
 
 

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